25. Kapitel – Entführt

 I.

Die Sonnenstrahlen des frühen Abends ließen die steinernen Patrizierfassaden der Piazza della Signoria rot aufglühen. Der Platz war voller Menschen – viele genossen flanierend die frühen Abendstunden, andere hasteten über den Platz, um nach der Arbeit noch Einkäufe zu erledigen und dann nach Hause zum Abendessen mit der Familie zu eilen.

Piazza della Signoria

Photo: Sailko Creative Commons 2.5 Generico https://creativecommons.org/licenses/by/2.5/deed.it

Seit dem Gartenkonzert von Edwige waren einige Tage vergangen. Die Tigerkatze hatte all ihren Mut zusammengenommen und sich entschieden, als Straßenmusikantin Geld für Mara und ihre Freunde zu verdienen. Heute wollte sie ihr Vorhaben in die Tat umsetzen !

Edwige schlüpfte unter dem gusseisernen Geländer hindurch, das die Fontana del Nettuno umgab. Sie stieg die wenigen Treppenstufen hinauf, die zu dem Becken, inmitten dessen die riesige Neptunstatue stand, führten, wobei sie die Marmorplatte, die an die Hinrichtung Girolamo Savonarolas vor über 500 Jahren erinnerte, tunlich mied. Die Geschichte der Menschen war voller Grausamkeiten. Edwige wollte daran so selten wie möglich erinnert werden.

Auf der obersten Stufe legte sie ihren Geigenkasten ab, öffnete ihn und zog ihre Geige hervor. Mit ein paar Bogenstrichen stimmte sie das Instrument. Dann holte sie tief Luft und setzte zu dem schwierigsten Stück, das sie spielen konnte, an: dem Presto aus der g-Moll Sonate von Bach. Wenn sie es wagte, dieses Stück in der Öffentlichkeit zu spielen, würde sie auch ihr restliches Repertoire darbieten können!

Die Geigenklänge zogen schnell Menschen an. Wer spielte denn hier? Weit und breit war kein Musiker zu sehen … vor den Stufen des Brunnens sah man nur einen kleinen, bunt bemalten Zirkuswagen aus Holz, hinter dem zwei Katzen saßen, und der offensichtlich dazu diente, Münzen einzusammeln: im Wagen lagen bereits – zu weiteren, großzügigeren Spenden einladend – zwei 1 Cent Stücke.

Ein kleines Mädchen entdeckte die kätzische Geigerin zuerst. „Papa, da spielt eine Katze Geige!“ rief es.

Der Vater beugte sich zu seiner Tochter hinunter. „Nein, Katzen können doch nicht geigen, das gibt es nicht…“ Dann sah er die Tigerkatze – die Geige haltend mit halb geschlossenen Augen und voller Konzentration. Der Mann glaubte erst an einen Trick – sicher hatte man der Katze beigebracht, sich so mit der Geige hinzusetzen (was allein für sich schon eine beachtliche Leistung war!) – und irgendwo weiter entfernt musste jemand einen Kassettenrekorder (so nannte man diese Geräte jedenfalls zu seiner Zeit) aufgestellt haben, der nun die Musik abspielte… aber wo stand der nur? Der Mann schüttelte ratlos den Kopf.

Was auch dahinterstecken mochte – die Darbietung der geigenden Katze war faszinierend. In kurzer Zeit hatte sich eine Traube von Menschen um den Brunnen gebildet, die wie verzaubert den Geigenklängen lauschten.

Als Edwige nach dem Schlussakkord den Bogen absetzte und sich verbeugte, setzte frenetischer Beifall ein. Eine ältere Dame kramte in ihrer Handtasche, fand ihr Portemonnaie und warf eine Münze in den Wagen. Nun taten es andere Leute ihr gleich – in nur wenigen Sekunden war der Wagen voller Münzen. Nun riefen die Leute „Da capo! Da capo!“ Sie verlangten eine Zugabe!

Edwige entschloss sich, noch das Liebesleid von Kreisler zu spielen – auch dieses erntete begeisterten Applaus. Als Edwige noch einmal die Corrente der Bach-Partita vorspielen wollte, flüsterte Leo, die bisher im Geigenkasten sitzend gelauscht hatte, ihr zu „Edwige, der Wagen ist schon voller Geld. Wir müssen das irgendwie nach Hause schaffen… lass uns lieber gehen und morgen wiederkommen!“

Luzi und Merlin, die sich hinter dem Wagen unter den Stufen versteckt hatten, nickten. „Leg einfach die Geige in den Kasten – dann verstehen die Leute schon, dass für heute Ende der Vorstellung ist.“

Edwige, von ihrem Erfolg angetan, wollte die stehenden Ovationen gern noch etwas ausgekosten und meinte: „Ein letztes kleines Stück noch. Dann gehen wir.“ Sie setzte Geige und Bogen an – und schon erklangen die ersten Töne der Humoreske von Dvorak.

Um den Zuschauern klarzumachen, dass dies die letzte Zugabe sei, für die keine Spenden mehr erwartet würden – sie hätten ohnehin kein weiteres Geld transportieren können – deckte Luzi den Wagen mit einem Handtuch, das er sicherheitshalber mitgenommen hatte, ab. Hoffentlich konnten sie bald hier weg – die vielen Menschen um ihn herum waren Luzi nicht geheuer.

Edwige, die Augen nun vor Konzentration geschlossen, setzte zu den letzten Takten des Stücks an. Sie bemerkte nicht, dass sich von rechts ein Schatten über sie schob.

Ein plötzlicher, gellender Aufschrei des Publikums ließ sie hochschrecken – in diesem Moment wurde ein dichtes Netz über sie geworfen und rasch zusammengezogen. Sofort ließ Edwige Geige und Bogen fallen und warf sich auf den Boden, um unter dem Netz hindurch zu schlüpfen – aber sie verfing sich nur noch mehr in den engen Maschen. Schreiend versuchte sie, sich zu befreien – vergeblich!

Das kleine Mädchen im Publikum begann zu weinen – die alte Dame rief: „Sie Tierquäler! Lassen Sie sofort die Katze frei!“

Luzi und Merlin, die bisher wie vom Blitz getroffen an der Treppe gesessen und sich vor Schreck nicht bewegt hatten, sahen nun eine große, dunkle Gestalt sich über das zappelnde Netz beugen, in dem Edwige gefangen war.

„Immer mit der Ruhe, Signora!“ sagte der Riese mit rauer Stimme. „Das ist meine Katze! Ich habe ihr das Geigenspiel beigebracht. Sie ist mir gestern ausgebüxt. Aber jetzt habe ich sie ja wieder.“ Er brach in ein heiseres, hämisches Lachen aus.

„Sie werden wohl nichts dagegen haben, wenn ich meine eigene Katze wieder zu mir nehme, nicht wahr?“ Er zog einen dicken Handschuh über, griff in das Netz hinein und zog erst die Geige, dann den Bogen hervor, während Edwige fauchend nach der Hand des Mannes schlug, ohne etwas ausrichten zu können.

„Sehen Sie, ich kümmere mich sogar um ihr Musikinstrument.“ Er verstaute Geige und Bogen, die etwas ramponiert, aber nicht zerbrochen schienen, in den Geigenkasten.

Das kleine Mädchen flüsterte seinem Vater zu: „Stimmt das, was der Mann sagt?“ Der Vater sah die Kleine stirnrunzelnd an. „Ich weiß es nicht“, sagte er. Die alte Dame hingegen zückte ihren Regenschirm und wetterte: „Lassen Sie sofort das Tier frei, sonst hole ich die Polizei!“ Mit erhobenem Schirm ging sie auf den riesigen Mann zu – sie glaubte ihm offensichtlich kein Wort!

Der hatte indessen flugs das Netz mit der Katze geschultert – er tat dies nicht zum ersten Mal, wie man unschwer erkennen konnte –, den Geigenkasten zugeklappt und ihn unter den Arm geklemmt. Nun schickte er sich an, auch das Bollerwägelchen mit dem Geld an sich zu nehmen! „Die Einnahmen gehören natürlich ebenfalls mir. Meine Katze – mein Verdienst…“ grinste er.

Niemand hatte im Eifer des Gefechts bemerkt, dass Leo, kurz bevor der Geigenkasten zuschlug, sich unter dem Geigentuch im Kasten versteckt hatte. Der Deckel hatte sich über ihr geschlossen und es war dunkel geworden. Aber Leo wusste, sie würde in dem Geigenkasten von dem Mann mitgenommen werden – und so in der Nähe von Edwige bleiben.

Der Riese – er musste fast zwei Meter groß sein! – ging nun mitsamt dem Netz, dem Geigenkasten und dem Wägelchen, das er hinter sich herzog, zu einem vermutlich verkehrswidrig hinter dem Brunnen geparkten, rostigen Lieferwagen auf drei Rädern. Er warf das Netz mit der wild strampelnden und schreienden Edwige in einen auf der Ladefläche stehenden Kasten, den er mit einem Riegel verschloss. Den Geigenkasten und den Bollerwagen voller Geld stellte er in eine Art Wäschekorb, der fest mit der Ladefläche vertäut war, damit er während der Fahrt nicht verrutschen konnte. Es war offensichtlich, dass das Gefährt für den raschen und sicheren Abtransport von Beute präpariert war.

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Luzi und Merlin folgten dem Mann unbemerkt bis zu dem Lieferwagen. Das Herz schlug ihnen bis zum Hals – was sollten sie tun?

Merlin entschied in Windeseile: „Ich bleibe bei Edwige – du organisierst Hilfe! Du kannst schneller laufen als ich mit meiner Pfote. Merk Dir unbedingt das Autokennzeichen auf dem Nummernschild!“

Noch bevor Luzi protestieren konnte, humpelte Merlin zum Auto, zog sich mit Mühe an der Ladefläche hoch, kletterte über die Seitenwand und versteckte sich in einem Autoreifen, der auf der Ladefläche lag. Hier war er vor Blicken geschützt.

Das Autokennzeichen! Das musste Luzi nun finden – und im Kopf behalten! Dann nach Hause zu Alice und Dante – und Hilfe holen. Aber wie sollte die aussehen? Und wo war dieses Nummernschild?

Das Auto sprang an, gleich würde es wegfahren! Hier – am Heck war eine Nummer, die musste er sich merken! Würde er sich an die Zahlen und Buchstaben erinnern können? Was stand dort denn? AF 752MZ PO – nie würde er sich eine so lange Nummer merken können, nie! Oder doch? Er musste sie sofort aufschreiben … er nahm einen Kieselstein, der auf dem Boden lag und begann, die Nummer damit auf das Pflaster zu kritzeln. AF 752MZ PO… nun musste er die Nummer bis nach Hause bringen.

Nach Hause … wo war das – sein Zuhause? In Paris? Bei Zsazsa oder am Gare de l’Est? Hier in Florenz bei Mara? Im Palazzo bei Mignon und Tano – oder bei Nonna…? Die Gedanken rasten nur so durch seinen Kopf …

Nein, nirgendwo dort war sein Zuhause. Es war da, wo seine Freunde waren: Edwige, Merlin und Leo … wo war überhaupt Leo? Luzi begann, sich um sich selbst zu drehen und nach Leo zu rufen – aber nirgendwo sah er sie und sie antwortete nicht. Sie musste mit Edwige zusammen gefangen worden sein. Hatte Leo nicht im Geigenkasten gesessen?

Luzi sah den Wagen von der Piazza della Signoria fahren, in eine kleine Gasse einbiegen – und verschwinden. Hemmungslos begann der kleine Kater zu weinen. Er war allein. Seine Freunde waren fort – einem brutalen Schurken ausgeliefert, der Edwige entführt hatte! Was hatte dieser Mensch mit Edwige vor? Luzi erschauerte, wenn er an die Greueltaten dachte, derer Menschen fähig waren. Er musste schnellstens hier weg – zu Dante und Alice – mitsamt der Autonummer, und dann Hilfe holen!

Da – auf dem Platz lag ein weggeworfener Pommes-Frites-Pappteller mit einem Rest Ketchup! Er schnappte sich das Tellerchen und schrieb mit seiner Kralle, die er ins Ketchup tunkte, die Nummer darauf. Dann nahm er den Karton fest zwischen die Zähne und lief los – zu Mara.

Was Luzi nicht wusste, war, dass auch die wehrhafte alte Dame mit dem Regenschirm – Signora Eva Conti, ihres Zeichens Commissaria a. D. – das Kfz-Kennzeichen notiert hatte und damit schnurstracks zur nahegelegenen Questura, der Polizeihauptdienststelle, marschiert war, um dort Anzeige wegen Tierquälerei, Diebstahls und Falschparkens zu erstatten.

II.

Knatternd rollte das verbeulte, hellgrün-rostige Vespa-Car durch die engen Straßen von Florenz. Der Mann am Steuer pfiff fröhlich vor sich hin. Er hatte heute einen der besten Fänge seines Lebens getan – da war er sich sicher. Eine Geige spielende Katze! Er hatte beobachtet, wie das Tier innerhalb von nur einer Viertelstunde einen ganzen Bollerwagen voller Geld gescheffelt hatte. Gut, es war ein kleiner Bollerwagen – aber trotzdem! Wieviel dabei wohl zusammengekommen war? Er würde es nachher zählen. Ha! Bei dem Gedanken an das klimpernde Geld wurde ihm warm ums Herz. Es gab kaum etwas, das sein Herz erwärmen konnte – aber Geld vermochte das. Er lachte laut auf. Nun musste er das Biest dazu kriegen, schön weiter auf seinem Geiglein vor Publikum zu spielen. Aber das würde er schon schaffen. Er hatte seine Methoden!

Er ließ die verwinkelten Gässchen der Innenstadt von Florenz hinter sich und bog in eine Landstraße gen Osten ein. Ein Weg von etwa 25 Kilometern lag vor ihm. Heute hatte sich die Fahrt nach Florenz gelohnt! Der Mann schraubte unter wieherndem Gelächter eine flache, metallene Flasche mit den Zähnen auf und genehmigte sich einen Schluck daraus. Angeheitert brüllte er auf „Morgen gibt’s keinen Kater – mit meiner neuen Goldkatze hängt der Himmel voller Geigen, harharhar!“ Dann trat er aufs Gaspedal, dass die Reifen nur so quietschten.

Merlin wurde auf der Ladefläche gehörig durchgeschüttelt. Das Auto hatte schon seit über 15 Jahren keine funktionierenden Stoßdämpfer mehr (wenn es überhaupt jemals welche gehabt hatte); jede Unebenheit der Straße übertrug sich auf die Ladefläche.

Der Kater traute sich, erst über den Rand des Reifens zu linsen, in dem er lag – dann zog er sich an einer Seite der Ladefläche hoch und sah, dass sie die Stadt verlassen hatten und über Land fuhren. Der Schreck durchfuhr ihn – wo waren sie? Und wohin brachte der Mann sie? Was war das für ein Mensch? Ein guter konnte es wohl nicht sein … Merlin versteckte sich wieder in dem Reifen und schloss die Augen.

Da – leises Wimmern und Kratzen drang aus dem verriegelten Kasten in der Mitte der Ladefläche. Edwige! Sie musste in dem Kasten gefangen sein. Und wo war eigentlich Leo? Vorsichtig verließ Merlin sein Versteck erneut. Die Holzkiste hatte Ritzen und Spalten – an eine besonders breite Spalte drückte er seinen Kopf und rief verhalten „Edwige! Bist Du da drin?“ Ein heiseres Flüstern war die Antwort: „Ja! Merlin, bist Du das? Oh das tut so gut, Dich zu hören! Ich kann mich kaum bewegen! Ich bin in diesem Netz verheddert! Wo sind wir?“

In kurzen Worten schildete Merlin Edwige die Situation. „Luzi holt Hilfe. Er hat sich – ich hoffe es jedenfalls – die Nummer dieses Autos gemerkt. Wir fahren gerade aus der Stadt heraus. Wohin, das weiß ich nicht. Ich weiß auch nicht, wo Leo ist. Sie muss wohl bei Luzi in Florenz sein. Ich habe sie an dem Brunnen nicht mehr gesehen.“

Nun setzte hinter der Holzkiste ein wildes Kratzen und Klopfen ein. Verwundert sah Merlin auf. Ein gedämpftes Stimmchen war zu vernehmen. „Merlin! Edwige!“ rief es. „Ich bins, Leo! Ich bin im Geigenkasten!“

Nun war Merlin nicht mehr zu halten. Er sprang in den hinter der Kiste stehenden Korb und wühlte sich durch Seile, Lappen und Altmetallteile. Dann sah er den kleinen Geigenkasten! Die Metallverschlüsse waren leicht zu öffnen; man musste sie nur etwas nach oben ziehen, dann sprangen sie von allein auf. Merlin klappte den Kasten auf – da saß Leo – mit den Tatzen vor den Augen, da sie das Sonnenlicht blendete. „Leo, ein Glück, dass Du da bist! Hilf mir – wir müssen Edwige aus dieser Kiste befreien!“ keuchte Merlin – erschöpft, aber voller Freude, die Schildkröte zu sehen.

Leo erfasste die Situation mit einem Blick. Sie kletterte aus dem Geigenkasten heraus, den Merlin wieder vorsichtig verschloss. Es sollte möglichst alles so aussehen, als habe sich niemand an dem Geigenkasten zu schaffen gemacht.

Gemeinsam versuchten Leo und Merlin nun, den Riegel, der die Holzkiste – Edwiges Gefängnis – verschloss, zurückzuschieben. Trotz aller Anstrengung gelang es ihnen nicht. Der Riegel saß wie festgeschweißt an der Kiste. Zwar war er nicht mit einem Schloss befestigt, aber er musste klemmen: es war unmöglich, ihn zu öffnen.

Sie mussten abwarten, bis der Mann ihn selbst aufschob. Edwige stöhnte. In der engen Kiste wurde es heiß – sie hechelte. Es gab keinen Weg heraus. Aber dass draußen vor der Kiste irgendwo Leo und Merlin waren – das gab Edwige Mut.

Der Wagen wurde langsamer. Er bog von der Landstraße ab und fuhr in einen Feldweg, der mitten durch abgeernete Felder führte. Merlin und Leo, die sich in dem Reifen versteckt hatten, wurden recht unsanft hin- und hergeworfen. Nach etwa einer Viertelstunde hielt das Auto vor einem eisernen Tor. Der Mann stieg aus, öffnete das Tor, und fuhr in eine Einfahrt. Kiesel knirschten unter den Rädern, der Wagen kam zum Stehen. Zitternd drückte sich Merlin gegen die Innenwand des Reifens, in dem er und Leo versteckt waren. Wie musste es erst Edwige in der Kiste gehen?

Die Wagentür öffnete sich und wurde gleich wieder zugeschlagen. Der Mann war ausgestiegen und kam nun nach hinten an die Ladefläche des Wagens. Er hob die Holzkiste mitsamt Edwige darin hoch, schulterte sie und trug sie zu einem alleinstehenden Haus mit rötlichem Ziegeldach, umstanden von Zypressen.

In einer anderen Situation wäre das Haus mit seinen Rundbögen und den vielen Blumentöpfen vor dem Eingang Merlin und Leo sicher wunderschön vorgekommen. Jetzt sahen sie nur, dass dieses Gehöft ein Gefängnis für Edwige – und möglicherweise auch für sie selbst –  werden sollte.

III.

Luzi hatte nicht ein einziges Mal innegehalten, seit er von der Fontana del Nettune losgelaufen war. Völlig außer Atem und mit brennenden Pfötchen kam er in der Via Toscanella an. Er stieß die Gartentür, die wie immer nur angelehnt war, mit einem Pfotenhieb auf und schleppte sich mit letzter Kraft bis zum Wintergarten. Das kleine Treppchen hinaufzuspringen schaffte er nicht mehr – stöhnend blieb er am Treppenabsatz liegen. Er spuckte das Papptellerchen, das er bis jetzt fest im Maul gehalten hatte, aus. Das Kennzeichen des Autos, in dem Edwige mit Leo und Merlin entführt worden waren, stand darauf. Es war die einzige Spur, die Luzi noch zu seinen Freunden führen konnte.

Dante hatte Luzi kommen hören und kam ihm entgegen – hoffte er doch, auch wenn Mara seither wieder Futter eingekauft hatte und niemand Hunger litt, dass es nun Besseres zu Fressen geben würde!

Er sah Luzi sofort an, dass er sehr schlechte Nachrichten hatte.

„Edwige ist weg! Ein riesiger Mann hat sie entführt! Es ging so schnell – ich konnte nichts tun, gar nichts!“, keuchte Luzi. „Merlin und Leo sind in dem Auto, in dem Edwige gekidnappt wurde, mitgefahren, um ihr helfen zu können. Also – ich glaube, dass Leo dort mitgefahren ist. Ich habe sie danach nirgends mehr gefunden… ich weiss nicht, wo sie ist. Warum habe ich das nicht verhindern können? Hätte ich doch nur besser aufgepasst…“

Luzi versagte die Stimme. Er begann, zu schluchzen.

Nun kam auch Alice aus der Wohnung gelaufen. Sie hatte die letzten Worte gehört und erfasste den Ernst der Lage sofort. Sie setzte sich zu Luzi und schnurrte, um ihn zu beruhigen.

„Versuch, uns genau zu beschreiben, was passiert ist!“

Luzi begann, zu erzählen. Wie Edwige Geige gespielt hatte, und welchen Erfolg sie damit gehabt hatte. Die begeisterten Zuhörer, und das viele Geld, das sie gegeben hatten. Dann der große Mann mit dem Netz – gewiss ein böser Mann! – und das hellgrüne, verrostete Auto mit den drei Rädern…

Luzi verstummte. Alice zitterte plötzlich am ganzen Leib, so stark, dass es sie förmlich schüttelte … hechelnd sperrte ihr Mäulchen auf, als bekäme sie keine Luft mehr. Dante stupste sie an, aber Alice konnte nicht mehr sprechen. Luzi half Alice, sich im Gras hinzulegen und setzte sich neben sie – mehr konnte er nicht tun.

Dante – vor Angst zitternd – lief ins Café nach nebenan, um Mara zu holen. Die verstand zum Glück sofort, dass etwas Schlimmes passiert sein musste und folgte Dante in den Garten.

Als sie Alice nach Atem ringend auf der Seite im Gras liegen sah, holte sie in Windeseile eine Spritze aus ihrer tierärztlichen Hausapotheke, die sie Alice verabreichte.

Nach etwa 5 Minuten begann die Katze, normal zu atmen, reagierte aber nicht auf Ansprache. Mara brachte sie in die Wohnung auf ihr Kissen neben dem Sofa. Sie befahl Dante und Luzi, sich nicht wegzurühren und sie sofort zu holen, wenn sich Alices Zustand verschlechtern sollte.

„Alice muss eine Panikattacke gehabt haben… was war denn nur los hier?“ Dann fragte Mara: „Wo sind überhaupt eure Freunde? Die Tigerkatze, der rote Kater und die Schildkröte? Sind die gar nicht hier?“

Luzi maunzte laut auf, schnappte den Pappzettel mit dem Autokennzeichen und legte ihn Mara vor die Füße. Mara nahm den Karton auf, sah die Nummer und meinte „Das ist ein Nummernschild aus Prato … hat das etwas mit euren Freunden zu tun? Ich kann mich darum leider jetzt nicht kümmern – nachher vielleicht, wenn ich Feierabend habe.“ Und sie lief zurück ins Café.

Alice richtete sich plötzlich auf. „Ich weiss, wer das ist!“ rief sie. „Der Mann, der Edwige entführt hat, heisst Giuseppe. Ich kenne ihn! Meine Augen habe ich durch ihn verloren…“ Alice konnte nicht weitersprechen.

Luzi und Dante kuschelten sich an Alice. „Er kann Dir nichts mehr tun, Alice“, sagte Dante. „Wenn der herkommt, beiße ich ihn!“

„Und ich kratze ihn, bis er quietscht!“ rief Luzi.

„Gegen Giuseppe könnt Ihr nichts ausrichten“, flüsterte Alice. „Wir müssen Edwige da so schnell wie möglich rausholen. Bevor er ihr ein Leid antun kann. Denn das wird er.“ Sie wendete sich zu Luzi. „Was ist das für eine Nummer, die Du mitgebracht hast? Die brauche ich jetzt.“

IV.

Commissaria a. D. Eva Conti stieß die große Schwingtüre, die Einlass in die Questura gewährte, auf – so wie sie es über 30 Jahre lang jeden Tag während ihres Dienstes getan hatte. Seit Jahren war sie nicht mehr hier gewesen … ob man sie wohl noch kennen würde?

Diese Frage konnte die Commissaria sogleich mit einem „Ja“ beantworten. Der diensthabende Wachtmeister, ein gutmütig dreinblickender, nicht sehr schlanker Mann mittleren Alters, sprang erstaunlich flink von seinem Drehstuhl auf, in dem er bis jetzt gedöst hatte, salutierte und rief „Buona sera, Commissaria Conti! Welch schöne Überraschung! Was führt Sie zu uns?“ Er schien sich ehrlich zu freuen, die alte Dame zu sehen.

„Danke, Vittorio“, sagte die Commissaria. „Ich freue mich auch, wieder einmal hier zu sein. Wie lang ist mein letzter Besuch her? 10 Jahre? 12 Jahre? Ich bin in gewisser Weise dienstlich hier – nicht zu einem Besuch. Wo kann ich eine Anzeige erstatten? Ist das immer noch nebenan im Erdgeschoß?“

„Nein, das hat sich alles geändert, Commissaria. Sie müssen in den ersten Stock und dann links. Ganz am Ende des Ganges finden Sie die Kollegen.“

Eva Conti dankte ihrem früheren Dezernatsmitarbeiter und stieg die Treppe empor, die sind früher bis hoch in den 4. Stock zu ihrem Büro gebracht hatte. Heute bog sie bereits im ersten Stock ab und fand schnell den Raum, in dem die Bürger ihre Anzeigen erstatten konnten.

Hier saßen hinter einem Tresen drei gelangweilte Polizisten in Uniform. Man sah ihnen an, dass sie jetzt kurz vor Feierabend überhaupt keine Lust hatten, neue Aufgaben zu übernehmen. Als die Commissaria den Raum betrat, unterbrachen sie ihre Unterhaltung, die sich augenscheinlich um das Fußballspiel am heutigen Abend drehte.

„Signora, wie können wir Ihnen helfen?“ schnarrte der Uniformierte in der Mitte. Die Polizistin rechts vertiefte sich in ihren Computerbildschirm – froh, dass das endlose, sich immer wieder um dieselben Spieler drehende Gespräch nun ein vorläufiges Ende gefunden hatte.

„Ich möchte eine Straftat anzeigen, die ich soeben auf der Piazza della Signoria beobachtet habe“, sagte die Kommissarin. Sie kannte die Kollegen nicht – sie mussten in den letzten Jahren neu eingestellt worden sein.

„Und zwar geht es um Tierquälerei. Vor dem Neptunbrunnen saß eine Katze, die Geige spielte. Ja, ich weiß, dass das ungewöhnlich ist. Sie wurde vor den Augen der Zuhörer brutal von einem Individuum, das ich recht genau beschreiben kann, eingefangen und weggebracht. Dafür gibt es weitere Zeugen. Nein, benennen kann ich die Zeugen nicht. Der Täter hat auch die Einnahmen, die die Katze mit ihrem Geigenspiel gemacht hatte, eingesteckt. Hier wäre wegen Diebstahls oder gegebenenfalls Unterschlagung zu ermitteln. Schließlich hat er aber auch mit seinem Lieferwagen auf dem Platz geparkt – das ist eine Ordnungswidrigkeit.“

Der Uniformierte kratzte sich am Kopf. „Eine Katze, sagen Sie…? Die Geige spielte? Sind Sie sicher, dass das nicht der Gestiefelte Kater war …“ Er brach in ein mokantes Gelächter aus, in das seine beiden Kollegen einstimmten.

Die Kommissarin erwiderte in schneidendem Ton: „Dass dies ein außergewöhnlicher Fall ist, sagte ich ja bereits. Dazu brauche ich Ihre Einschätzung nicht. Ich versichere Ihnen, dass der Tathergang ganz genau so war, wie ich ihn schildere.“

Sie schlug mit der Faust auf den Tresen, dass der Kugelschreiber des Uniformierten in die Höhe sprang. Auch sein Besitzer schien von dem Knall aufgeschreckt. „Ich bin Commissaria Conti, Herr Kollege! Ich habe in dieser Questura schon Fälle aufgeklärt, als Sie noch auf die Grundschule gingen!“

Sie kramte in ihrer Handtasche und zog ein Notizbüchlein hervor. „Hier ist das Kfz-Kennzeichen des Täters. Ich will sofort wissen, wer das ist!“

Brummend nahm der Polizist das Notizbuch entgegen, die die Kommissarin ihm entgegenhielt. Er tippte einen Code auf seiner Tastatur und gab dann zögernd das Kennzeichen in eine Suchmaske ein.

„Ich weiss aber nicht, ob ich Ihnen das sagen darf, Signora – ähhh, Commissaria. Datenschutz und so – Sie wissen schon.“

„Sie dürfen nicht nur, Sie müssen! Ich bin schließlich eine Kollegin. Und, wenn ich das sagen darf, ich wäre auch Ihre Chefin.“ Die Kommissarin wusste, dass dies eigentlich keine Rolle spielte, das Argument schien indes seine Wirkung nicht zu verfehlen. Der Polizist las den Namen, auf den das Fahrzeug angemeldet war, vor: „Ein gewisser Giuseppe Baldo, wohnhaft Prato, an der Via Guzzano. Eine Hausnummer habe ich nicht. Es ist dort alles sehr weitläufig. Ein Naturschutzgebiet, wenn ich mich nicht irre.“

Die Kommissarin nickte. Sie hatte die Adresse in Windeseile notiert. „Dann haben wir ja einen Ort, an dem wir ermitteln können! Wann schicken Sie jemanden los?“

Der Polizist blickte sie verständnislos an. „Ermitteln…? Weswegen sollten wir hier ermitteln?“

„Wegen Tierquälerei! Und wenn schon nicht deswegen, dann wegen eines Eigentumsdelikts und einer  Ordnungswidrigkeit! Drücke ich mich so unklar aus, Wachtmeister?“

„Nein, ich habe Sie schon verstanden, Commissaria. Es ist nur … wegen solch kleiner Delikte würden wir niemanden losschicken. Die Kollegen ermitteln nur noch bei deutlich schwereren Straftaten.“

Als er das entgeisterte Gesicht der Kommissarin sah, beeilte er sich, hinzuzufügen „In diesem Fall werden wir die Person natürlich anschreiben und vorladen.“

Die Kommissarin schnaubte. „Vorladen? Was wollen Sie damit erreichen? Das Geld ist bis dahin verprasst, und die Katze – daran darf ich gar nicht denken, was mit ihr geschehen wird!“

Der Uniformierte zuckte mit den Schultern. „Commissaria, so sind die Dienstanweisungen. Es tut mir leid. Ihre Anzeige ist aber im Programm eingegeben. Sie wird jetzt nach den Regeln bearbeitet. Machen Sie sich keine Sorgen!“

Kommissarin Eva Conti war klar, dass sie hier nichts weiter würde erreichen können. Kühl bedankte sie sich und verließ den Dienstraum.

Die Polizisten warfen sich einen stummen Blick zu. Der Uniformierte in der Mitte schüttelte den Kopf. Es tat wohl nicht jedem Kollegen gut, in Pension zu gehen. Die Kommissarin jedenfalls war offensichtlich nicht mehr ganz richtig im Kopf. Eine entführte Katze zur Anzeige zu bringen … tsss. Traurig, denn der Ruf, den Commissaria Conti in der Questura immer noch hatte, war ausgezeichnet.

Als die Kommissarin vor der Questura auf der Straße stand, griff sie zu ihrem telefonino. Sie wollte ihre Nichte anrufen und sie bitten, sie mit dem Auto abzuholen. Die Diskussion mit dem Polizisten hatte sie angestrengt. Bevor die Leitung frei war, besann sie sich eines anderen und kehrte in die Questura zurück. Am Eingang saß immer noch Vittorio, freundlich lachend, als er seine frühere Vorgesetzte wieder hineinkommen sah. „Kann ich noch etwas für Sie tun, Commissaria?“

„Ja, Vittorio, das können Sie. Es müsste allerdings unter uns bleiben. Wie sieht es mit den Vorstrafen dieses Herrn aus?“ Sie legte das Notizbuch mit dem Namen des Verdächtigen auf den Tresen.

Vittorio kratzte sich verlegen am Hinterkopf. „Eigentlich würden wir so etwas nicht herausgeben … aber da Sie es sind, kann ich eine Ausnahme machen, Commissaria. Einen Moment …“ Er tippte etwas auf seinem Computer und loggte sich in eine Datenbank ein.

„Da haben wir ihn … oho … kein unbeschriebenes Blatt, der Gute. Unterschlagung, Einbruchsdiebstahl, Hehlerei, Raub, Körperverletzung, Tierquälerei … seit den 80er Jahren immer wieder Kunde bei uns. War mehrfach im Gefängnis. Wieso interessieren Sie sich für ihn, Commissaria – wenn ich fragen darf?“

„Ich habe ihn gerade angezeigt, wegen gleich zwei seiner gewöhnlichen Straftaten. Aber die Kollegen wollen nichts unternehmen. Ist das heutzutage so üblich?“

„Ja, die Sparmaßnahmen… Sie wissen ja. Ich fürchte, da wird nicht viel gemacht werden.“ Er seufzte. Dann sah er ein gefährliches Blitzen in den Augen seiner Chefin. „Nein, nein, Commissaria! Sie unternehmen da gar nichts auf eigene Faust! Ich bitte Sie! Der Mann ist gefährlich. Kommen Sie nicht auf dumme Gedanken!“

Die Kommissarin winkte ab. „Keine Sorge, Vittorio. Für derlei Abenteuer bin ich doch zu alt.“

„Das meine ich nicht, Commissaria. Wenn Sie etwas unternehmen wollen, also falls Sie wieder einmal nicht anders können, als zu ermitteln – dann rufen Sie mich bitte an, ja?“

Eva Conti legte ihrem früheren Mitarbeiter die Hand auf die Schulter und knuffte ihn freundschaftlich. „Ich verspreche, dass ich mich dann melde, falls es nötig sein sollte, Vittorio. Ich danke Ihnen.“

Dann verließ sie die Questura. Sie wählte die Nummer ihrer Nichte, die gleich abhob. „Lisa, kannst Du mich bei der Questura abholen? Das ist lieb von Dir. In 20 Minuten? Großartig. Sag, hat Dein telefonino diese neumodische Navigations-Funktion? Mit der man automatisch im Auto an einen Ort geleitet wird? Ja? Würdest Du mir nachher erklären, wie man damit umgeht…? Wunderbar! Ich warte im Café gegenüber der Questura auf Dich. Lass Dir ruhig Zeit.“

Sie legte auf. Dann setzte sie sich, wie in alten Zeiten, auf die Terrasse des Cafés, in dem sie früher jeden Abend nach Dienstschluss mit den Kollegen den Tag bei einem letzten Café oder einem Bitter hatte ausklingen lassen. Es war schade, dass nach der Pensionierung auch diese kleinen Angewohnheiten verloren gingen. Sie seufzte einmal kurz auf, denn es war lange her, dass sie dies zum letzten Mal getan hatte – dann rief sie „Cameriere – einen Bitter, per favore!

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