Was vorher geschah …
Aus dem Reisetagebuch von Luzi
„Es ist Wochen her, seit ich mein Tagebuch das letzte Mal geöffnet habe. Heute ist der Tag, an dem ich wieder hineinschreiben will.
Fast Mitternacht… Ich liege auf einer dünnen Decke in der Höhle von Nonna, Tanos Großtante, die uns gütigerweise für ein paar Nächte beherbergt. Die Glut der Feuerstelle, über der noch die allgegenwärtige Espressokanne hängt, erhellt den Raum ein wenig; ich nutze den letzten Schimmer des fast erloschenen Feuers, um diese Zeilen zu schreiben.
Neben mir schläft Merlin. Er stöhnt im Traum auf. Vorhin hat er von der köstlichen Pizza, die Nonna gebacken hat, kaum etwas essen wollen. Er hat nur immer wieder nach Wasser verlangt. Uns allen ist klar, dass unser lieber Freund – sollte die Medizin, die Leo und Edwige bringen wollen, nicht morgen früh eintreffen – keine Aussicht auf Genesung hat. Ich weine, während ich dies schreibe. Merlin ist uns allen ans Herz gewachsen; ich kann mir nicht vorstellen, wie wir die Reise zu Zsazsa ohne ihn weiterführen sollen.
Wenn nur Edwige und Leo kämen! Aber wie sollen sie uns finden – sie wissen ja nicht einmal, dass wir hier bei Nonna sind… Sicher sind sie zum Palazzo Peruzzi zurückgekehrt, und dort auf die schändliche Räuberbande von Tullio getroffen. Mir graut, wenn ich daran denke, was ihnen dort widerfahren sein könnte! Und ich habe keine Möglichkeit, sie zu warnen…
Tano und Nonna scheinen zu glauben, dass Edwige, Leo und Mignon, die sie begleitet, mit Hilfe der anderen Florentiner Katzen hierher finden werden. Die ist nun meine letzte Hoffnung.“
Luzi klappte sein Tagebuch zu und verstaute es in seinem Militärbeutelchen, das er fest angezurrt am Körper trug. Es enthielt all seine Habseligkeiten: seinen Marcel Proust, das Tagebuch, den Bleistift, etwas Schnur und ein paar Münzen. Der Anblick der vertrauten Sachen gab ihm Halt.
Dann rollte er sich auf dem Deckchen zusammen, legte sich den Beutel unter den Kopf, seufzte noch einmal auf und schlief ein.
Es war tiefe Nacht, als Luzi erwachte. Ein Kratzen an der weit oben an der Decke angebrachten fensterartigen Klappe hatte ihn geweckt. Irgendjemand – gar ein Mensch? – schien zu versuchen, die Klappe von außen aufzubrechen!
Das Herz schlug Luzi bis zum Hals, als er Tano am Kopf tatzelte. „Tano, wach auf!“ raunte er dem Kater zu. „Da steigt jemand bei uns ein!“
Schlaftrunken erhob sich Tano und rieb sich die Augen. Da! Nun hörte er es auch deutlich: am Kellerfenster kratzte und klapperte es. „Nonna“, rief er dann voller Angst. „Nonna! Rapinatori – Einbrecher!“
Nonna sprang aus der Nische, in der sich ihr Schlafzimmerchen befand, heraus. Ohne jedes Anzeichen von Furcht erklomm sie einen Mauervorsprung, dann einen zweiten – bis sie direkt vor dem winzigen Fensterchen saß.
„Wer ist da?“ schrie sie wütend durch das Fenster. „Zu nachtschlafender Zeit – falls die Herrschaften das nicht bemerkt haben sollten – hat gefälligst Ruhe zu sein!“
Ein Stimmchen ertönte, aber man konnte nicht verstehen, was es sagte. Dann schob sich eine getigerte Katzepfote durch den engen Spalt und zog die hölzerne Klappe mit den Krallen nach außen, so dass der Spalt größer wurde. Nun erschien eine kleine, grün-gepanzerte Gestalt in der winzigen Öffnung:
Es war Leo!
Nonna fauchte die ihr unbekannte Schildkröte an – tatsächlich hatte sie in ihrem Leben noch nie eine Schildkröte gesehen, jedenfalls nicht so nah!
Luzi jubelte laut auf – Leo und Edwige hatten sie gefunden! Die Rettung für Merlin war nah! Ja – wenn denn Leo und Edwige das Medikament brachten. Hatten sie es überhaupt gefunden?
Ein Knirschen und Knacken ertönte – die hölzerne Verkleidung zerbarst unter dem Ziehen und Zerren von Edwige. Nun war das Fensterchen so weit geöffnet, dass auch Edwige – und gleich nach ihr Mignon – ins Innere kommen konnten.
Mignon sprang auf ihre Großtante zu, die mit vor Überraschung weit geöffnetem Mund auf dem Mauervorsprung saß. „Nonna, ich bin es – Mignon! Bitte entschuldige, dass wir mitten in der Nacht bei Dir hereinplatzen. Pico sagte uns, dass er Tano in den Uffizien gesehen habe, und da dachte ich mir gleich, dass er und unsere Freunde hier bei Dir sind. Wie geht es Dir, liebe Nonna?“
Mignon rieb sich schnurrend an ihrer Nonna, die auf sie ganz anders reagierte als auf ihren Großneffen Tano. „Das hast Du gut gemacht, gleich herzukommen“, sagte Nonna. „Euer kranker Freund braucht ganz dringend Hilfe!“
Mignon sprang über die Mauervorsprünge hinunter in Nonnas Wohnung. Edwige stammelte ein paar Entschuldigungen ob der zerbrochenen Fensterverkleidung, aber Nonna winkte ab. „Das bringt Tano morgen schon wieder in Ordnung. Er ist mir sowieso noch etwas schuldig.“
Tano fauchte leise, sagte aber nichts. Nonna widersprach man lieber nicht! Insgeheim nahm er sich aber vor, Mignon danach zu fragen, wie sie in den Genuß dieser Sonderbehandlung kam.
Als Edwige und Leo nach Nonna unten in der Wohnung angekommen waren, umarmte Luzi voller Freude seine Schildkrötenfreundin.
„Bitte seht als erstes nach Eurem Freund“, sagte Nonna zu Edwige und Leo. „Vorstellen könnte Ihr Euch auch später noch. Ich weiss, dass Ihr die Medizin bringt. Hoffentlich kann dem Armen noch geholfen werden.“
Dankbar nickte Edwige. Sie kauerte sich neben Merlin, der die Augen halb aufgeschlagen hatte und nur mit Mühe ein Wort zur Begrüßung wisperte.
„Merlin, wir haben mit der Tierärztin gesprochen. Sie hat uns ein ganzes Päckchen mit Medizin für Dich mitgegeben. Sie sagte, als erstes sollten wir Dir etwas für die Schmerzen an der Pfote geben.“
Edwige kramte in ihrem Beutel und zog ein Fläschchen hervor. „Dies hier sind die Schmerzmittel-Tropfen. Du kannst sie in etwas Wasser einnehmen.“ Merlin versuchte, zu nicken.
Luzi brachte ein Glas mit Wasser, in das Edwige genau abgezählt ein paar Tropfen gab. Leo half dabei, Merlin die Medizin einzuflößen.
Dann vertiefte sich Edwige in den Zettel, der bei den anderen Medikamenten lag. „Phospatbinder, Stärkungsmittel, Schmerzmittel … gut, das kenne ich alles. Hier steht aber noch etwas, was ich nicht so genau entziffern kann …“ Edwige räusperte sich und hielt Leo den Zettel hin. Es war ihr etwas peinlich, die zudem noch sehr klein geschriebenen Worte nicht lesen zu können.
Leo krabbelte auf den Zettel. „Bei Exi … Exik… ? So ein Wort habe ich noch nie gehört, geschweige denn gelesen …“ Sie kratzte sich am Kopf. „Ich kann gedruckte Schrift ganz gut lesen, aber bei einer Handschrift fällt es mir sehr schwer. Luzi, kannst Du das lesen…?“
Luzi schüttelte den Kopf. Dieses Wort kannte er nicht.
Merlin flüsterte mit letzter Kraft: „Lasst mich mal gucken. Vielleicht kann ich es ja entziffern…“
Zögernd reichte ihm Edwige den Zettel. Hoffentlich stand nichts darauf, was Merlin Angst machen konnte …
Mit schwacher, aber doch deutlicher Stimme las Merlin vor. Er musste nach jedem Wort eine Atempause machen.
„Bei … Exsikkose … muss der Kater … sofort … Infusionen bekommen… Hier meine … Adresse…“ Merlin brach ab. Das Blatt Papier glitt ihm aus der Pfote.
„Es gibt keine Hoffnung mehr …“ hauchte er.
Mit einem entschlossenen Griff packte Edwige den Zettel. „Und ob es Hoffnung gibt. Hier steht die Adresse der Tierärztin, und da bringen wir dich jetzt hin, Merlin. Sie hat es uns auch selbst gesagt: wahrscheinlich braucht Euer Freund Infusionen. Das ist also etwas ganz Normales!“
Leo zischelte, damit Merlin sie möglichst nicht hörte: „Was ist denn das, dieses ‚Exsi‘?“
Edwige ging nicht auf die medizinischen Einzelheiten ein. Sie wusste ganz genau, was das Wort bedeutete – nämlich Austrocknung. Rasch zupfte sie Merlin am Fell und sah, dass die Haut nur mit Mühe an ihre Ausgangsstelle zurückrutschte.
„Merlin braucht Flüssigkeit, das heisst es. Ich habe schon viele Patienten in der Klinik gehabt, die Infusionen gebraucht haben, und danach ging es ihnen wieder prächtig!“
Grummelnd fügte sie hinzu: „Ich hatte dieses Wort nur noch nie ausgeschrieben gesehen.“
Dass es vielen Patienten leider nur wenige Tage „prächtig“ gegangen war, bevor das Unvermeidliche eingetreten war, verschwieg Edwige. Denn schließlich hatten sich zumindest einige auch vollkommen von der Krankheit erholt – zumindest war es ihnen lange Zeit besser gegangen. Zu genau durfte man es mit den Erfolgsaussichten nicht nehmen – sonst konnte man gleich die Flinte ins Korn werfen.
„4, Via Toscanella ist die Adresse, zu der wir müssen. Ist das weit?“
Nonna überlegte kurz. „Nein, das ist nur einen Katzensprung entfernt. Ihr müsst rüber nach Oltrarno. Also am Arno entlang, dann über den Ponte Vecchio … rechts in den Borgo S. Jacopo und danach schon links in die Via Toscanella. Das geht schnell. Am schwierigsten wird es werden, Merlin hier aus meiner Höhle herauszubringen. Ihr werdet ja nicht den langen Weg durch die Katakomben nehmen wollen …“
Luzi schüttelte den Kopf. „Nein, wir müssen oben durch die kleine Luke – das ist der schnellste Weg. Ich kann Merlin tragen – Edwige und Tano, zieht Ihr den Wagen nach oben?“
„Wartet mal“, sagte Leo. „Wenn wir jetzt zur Adresse der Tierärztin – sie heisst übrigens Mara – laufen: woher wissen wir überhaupt, dass sie da ist? Sie war doch vorhin noch im Dispensario …“
„Leo hat recht“, meinte Luzi. „Wir sollten zumindest warten, bis die Nachtschicht vorbei ist. Dann geht die Tierärztin sicher nach Hause.“
Durch die Spalte in der Fensterverkleidung sah man ein winziges Stückchen Himmel. Ganz leicht rötlich färbte es sich nun – der Morgen war nicht mehr fern.
Rasch fachte Nonna die Glut an, die sie in der Feuerstelle bewahrt hatte. Bald sprudelte die Kaffeekanne, und Nonna goß ihren Gästen einen fast dickflüssigen, sehr wohlschmeckenden Espresso ein.
„Das schmeckt gar nicht bitter!“ freute sich Leo. Luzi hatte sich wieder reichlich mit Zucker bedient: langsam kam er doch auf den Geschmack.
Als die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne sich durch die Fensterluke stahlen, hob Luzi vorsichtig den kranken Merlin auf, sprang auf den ersten Mauervorsprung, dann auf den zweiten … und war am Fenster angelangt. Nachdem er vorsichtig durch den Spalt gespäht und niemanden erblickt hatte, hatte er sich durch die enge Öffnung gezwängt und war links über den großen Platz der Uffizien gelaufen. Der Palast mit dem Innenhof war zu dieser frühen Stunde menschenleer. Luzi hätte die architektonische Pracht gern länger bewundert – aber dafür blieb keine Zeit. Merlin brauchte schnellstens Hilfe.
Auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes fand Luzi den verlassenen Stand eines Florentiner Malers. Dahinter versteckt wartete er auf Leo und Edwige, die Mühe hatten, den Wagen durch die Fensteröffnung zu bugsieren.
Schließlich sah Luzi seine Freunde mitsamt dem Wägelchen über den Platz auf ihn zukommen: Leo stehend im Bollerwagen, Edwige davorgespannt und Mignon schräg dahinter – einer Troika gleich.
Sie mussten es einfach schaffen, Merlin zu retten!