Wie Edwige es vorausgesagt hatte, waren sie mit dem Zirkus-Wägelchen unbehelligt durch die Metro gekommen. Sie waren in Pernety ein- und in Montparnasse Bienvenüe umgestiegen, dann bis zum Gare de l’Est weitergefahren. Ein paarmal hatten Kinder ihre Eltern auf das merkwürdige Gespann aufmerksam gemacht. „Maman, guck mal! Da fahren Katzen mit der Metro!“ hatte ein kleines Mädchen zu seiner Mutter gesagt und auf die drei gezeigt. „Das ist aber eine hübsche Werbung für den Zirkus“, hatte die Mutter geantwortet. „Die Katzen scheinen genau zu wissen, wo sie hin müssen. Die sind gut dressiert! Wenn Du brav bist, gehen wir am Wochenende in den Zirkus, ja?“
Die Erwachsenen hatten die drei Katzen überhaupt nicht beachtet. Eilig und misslaunig, wie es in Paris üblich ist, waren sie an den Tieren vorbeigehastet, auf dem Weg zur Arbeit oder zu einem wichtigen Treffen. Edwige und ihren Freunden war das gerade recht gewesen. Sie mussten schließlich bald am Gare de l’Est sein. Leo sollte dort um 21 Uhr 32 eintreffen. Mit dieser Verbindung musste sie nur 2 Mal umsteigen. Für eine Schildkröte ist das ausschlaggebend.
Wie hatte Leo den Freunden in Paris überhaupt mitteilen können, wann und mit welchem Zug sie kommen würde? Der geneigte Leser mag sich durchaus diese Frage stellen.
Leo war eine sehr schlaue kleine Schildkröte und hatte sich daher von Jakob abgeguckt, wie man Postkarten schreibt, frankiert, adressiert und diese dann zur Post bringen lässt. Für letzteres reichte es aus, die fertige Postkarte in den Korrespondenzstapel von Jakobs Eltern hineinzuschmuggeln – der ganze Stapel wurde dann entweder von Jakobs Mama oder seinem Papa am nächsten Tag unbesehen in den Postkasten gesteckt.
So hatte Leo schon vor Wochen die Zugverbindung im Computer ermittelt, diese mitsamt ihren genauen Ankunftsdaten auf eine Postkarte aus Dresden gekritzelt und über den oben beschriebenen Weg an ihre Pariser Freunde abgeschickt. Eben diese hübsche Dresden-Postkarte hatte Edwige eines Morgens aus Zsazsas Briefkasten gefischt und Luzi voller Freude vorgelesen.
Nun waren die drei Katzen mit ihrem Wägelchen am Gare de l’Est angekommen. Sie hatten es geschafft, mitsamt dem Passagierstrom durch die Gänge und über die Rolltreppen bis auf die Gleise zu kommen. Da sie etwas zu früh da waren, versteckten sie sich hinter einem Stapel Mülltüten – hier blieb man unbemerkt, da sich die meisten Menschen zum Glück nicht für Müll interessieren.
Die große Uhr in der Bahnhofshalle zeigte 21 Uhr 16 an. Noch eine Viertelstunde warten! Aber auf welchem Gleis kam Leo überhaupt an? Edwige befahl den beiden Katern, sich nicht von der Stelle zu bewegen. Sie schlich hinüber zu der großen Anzeigetafel, auf der die Ankunfts- und Abfahrtzeiten der Züge vermerkt war – und las dort, dass der TGV aus Frankfurt, Ankunft 21 Uhr 32, fünf Minuten verspätet auf Gleis 19 eintreffen würde.
20 Minuten später standen Edwige, Luzi und Merlin am Gleis, versteckt unter den Wartesitzen, auf denen jetzt aber niemand saß. Der Zug war gerade eingefahren und hatte seine Türen mit einem leisen Zischen geöffnet. Aus dem Zug hatte sich eine schier unendliche Menschenmassen ergossen – manche mit Reisegepäck beladen, andere nur mit Aktenköfferchen ausgestattet. Alle eilten dem Gleisausgang zu – Luzi wäre beim Zusehen fast schwindlig geworden.
Ängstlich blickten sich die drei Freunde an. Würden sie Leo sehen? Würde Leo abwarten, bis alle Reisenden aus dem Zug ausgestiegen waren, und dann erst herauskommen? War sie als blinder Passagier in die Tasche eines Reisenden gekrabbelt und würde erst kurz vor der Metrostation ihr Versteck verlassen?
Edwige flüsterte, obwohl man sie bei dem Lärm, den die dahinhastenden Menschen machten, sowieso nicht gehört hätte: „Wir warten so lange hier, bis alle Leute weg sind. Sicher macht Leo es genauso. Dann werden wir sie ganz bestimmt sehen.“
Plötzlich begann Luzi, auf und ab zu hüpfen vor Aufregung. „Da!“ rief er mit unterdrückter Stimme. „Da ist Leo!“
Edwige sah genauer in die Richtung, in die Luzi wild gestikulierend zeigte – und richtig: ganz am anderen Ende des Gleises, etwa hundert Meter entfernt, sah man einen winzigen grünen Punkt, der sich, etwas hinter sich herziehend, langsam näherte.
„Ich laufe zu ihr – wartet hier auf uns!“ rief Luzi, schoß unter den Sitzen hervor und rannte in Richtung der kleinen Schildkröte.
„Leo!“ rief er. „Leo! Ich bins, Luzi!“ Atemlos kam er vor der Schildkröte zum Stehen. „Luzi, wie wunderschön, Dich zu sehen! Ich freue mich so, endlich wieder hier zu sein!“ sagte Leo. Sie streckte Luzi ihre Schildkrötentatze entgegen, aber Luzi packte gleich die ganze Schildkröte und drückte sie an sich. Dann gab er ihr schmatzend die traditionellen vier bises rechts und links auf die Wangen.
Unterdessen waren Edwige und Merlin nachgekommen. Leo winkte Edwige zu und begrüßte Merlin mit einem Nicken. „Wie schön, dass Ihr alle hergekommen seid. Aber das wäre doch nicht nötig gewesen!“
Edwige sah Leo etwas zu ernst für ein freudiges Willkommen an. „Wir sind sehr glücklich, Dich wiederzusehen, Leo. Bevor wir Dir alles erzählen, was bei vorgefallen ist, stelle ich Dir Merlin vor, unseren neuen Freund!“ Edwige erklärte Leo in ein paar Worten, wie Merlin zu ihnen gefunden hatte.
Dann sah sie Leo traurig an. „Sicher würdest Du jetzt gern nach Hause in die rue de Gergovie mit uns gehen. Ja, wir auch.“ Sie seufzte.
Leo nickte. Sie war seit dem frühen Morgen unterwegs und freute sich auf ein erfrischendes Bad, wie es Schildkröten lieben.
„Leider können wir nicht nach Hause zurück. Wir sind heimatlos geworden. Leo.“ Dann erzählte Edwige von Beginn an das Unglück, das über die drei Freunde hereingebrochen war, während Luzi seiner Schildkrötenfreundin über den Panzer streichelte.
Leo stöhnte entsetzt auf. Zuerst aus ganz egoistischen Gründen, weil sie sich seit etwa 3 Stunden in dem stickigen, überfüllten Zug ein kühles Bad ausgemalt hatte – damit wurde es nun nichts. Wenn sie es recht besah, würde es in absehbarer Zeit überhaupt kein Badezimmer geben. Leo schüttelte sich. Was für eine schreckliche Vorstellung!
Dann dachte sie an Madame Brunet, und wie schlecht es ihr ging. Das war viel schlimmer als eine Weile kein Bad zu haben … schließlich die Tatsache, dass Zsazsa weit weg in Italien war und ihre drei Freunde ihr Zuhause verloren hatten! Die Lage war eine verzweifelte.
Beklommen sah Leo Edwige und Luzi an. „Und nun …? Was tun wir nun?“ fragte sie bang.
„Das wollten wir Dich fragen, Schildkröte Leo“, sagte Edwige. Sie hatte absichtlich einen etwas „offiziellen“ Ton gewählt – um den Ernst der Lage zu unterstreichen. „Du bist weitgereist und kommst aus dem Ausland. Italien liegt auch im Ausland. Ich denke, wenn es jemanden gibt, der weiss, wie wir dort hinkommen, dann bist Du es.“
Luzi und Merlin nickten zustimmend – voller Vertrauen in Leos Fähigkeiten, auch in der ausweglosesten Lage die Lösung zu finden.
Leo schluckte. Sie hatte sich nach einem anstrengenden Schuljahr darauf gefreut, unbeschwerte Ferien in Paris zu verbringen – Champagner, boums mit den Freunden, Spaziergänge unter dem grauen, wolkenverhangenen Himmel von Paris bei den bouquinistes an der Seine … all dies würde es nicht geben.
„Wir müssen unbedingt Zsazsa finden“, hörte sie sich selbst sagen und glaubte kaum, dass sie die Herausforderung annahm. „Wo ist sie zum Studium hingegangen?“
„Nach Siena“, erklärte Merlin. „Das liegt in Oberitalien, genauer gesagt in der Toskana. Siena ist ein Musterbeispiel der Architektur der italienischen Gotik. Es muss eine wunderschöne Stadt sein.“ Merlin hatte, als er noch in seiner Schule lebte, einiges an klassischer Bildung erwerben können und wusste daher um die kulturelle Bedeutung von Siena.
„Dann sollten wir versuchen, einen Zug nach Siena zu nehmen“, schlug Leo vor. Fast kam sie sich bei dem Vorschlag etwas dumm vor – lag er doch allzu nah.
Edwige nickte. „Mir erscheint der Zug auch als die beste Lösung. Zu Fuß ist es wohl bis Italien zu weit.“ Ihr gleichmütiger Ton offenbarte, dass sie keine Ahnung hatte, wo Italien lag und wie weit es bis dahin war. Leo entschied sich, Edwige darüber nicht aufzuklären. Ein Blick in die Gesichter ihrer Freunde zeigte ihr, dass nur Merlin die Tragweite ihres Planes bewusst war.
Dennoch – es gab Züge bis nach Siena. Die Reise war also theoretisch zu bewältigen. Schließlich war sie schon von Dresden bis nach Paris gereist, und das mehrmals! Warum sollten sie nicht bis Siena kommen?
„Ich brauche eine Fahrplanauskunft, oder einen Internetzugang. Dann kann ich die Pläne studieren und uns eine Verbindung suchen. Aber dazu warten wir vielleicht besser ab, bis weniger Leute hier im Bahnhof sind“, meinte Leo.
„Ich wusste, dass sie es schafft!“ jubelte Luzi. „Meine kleine Leo bringt uns zu Zsazsa, da bin ich sicher!“
Verlegen murmelte Leo, dass sie bisher nicht mal einen Fahrplan habe, aber das wollten weder Edwige noch Luzi hören.
Eine Stunde später brachen sie auf – in Richtung Fahrplanauskunft. Dort gab es einen Automaten, in dem man sich Verbindungen ausdrucken lassen konnte. Glücklicherweise wusste Leo, wie man diese Automaten bediente. Edwige, Luzi und Merlin nickten sich zu. Wie gut, dass Leo da war. Sie hatte die technischen Fähigkeiten, die sie so brauchten! Außerdem war sie eine richtig gute Freundin, die sie nie im Stich lassen würde.
Nachdem Leo eine Weile an dem Bildschirm des Fahrkartenautomaten herumgedrückt hatte, ertönte ein Summen, dann eine Art Quietschen. Der Automat schien etwas zu drucken und dies dann auszuwerfen. Leo krabbelte halb in einen Ausgabeschacht hinein, fischte einen Zettel heraus und ließ sich von Luzi von dem Automaten herunterheben.
Als sie das Papier auf dem Boden vor den Freunden ausbreitete, verdüsterte sich Merlins Miene. Er sagte jedoch nichts.
Edwige buchstabierte einige Zeilen und brach dann ab. „Das ist ziemlich kompliziert“, fand sie. „Sag uns doch einfach die Kurzfassung, Schaffnerschildkröte Leo!“ Sie grinste.
Leo druckste etwas herum. „Unser Zug fährt morgen früh um 6 Uhr 39 hier vom Gare de l’Est ab. Dann fahren wir durch bis nach Strasbourg, dann nach Basel und Luzern. Wir müssen also die ganze Schweiz durchqueren. Danach kommen wir nach Mailand, Florenz und schließlich nach Siena, wo wir um 20 Uhr 38 eintreffen sollten – wenn alles nach Plan läuft.“ Leo schwieg. Dass sie bei jeder der genannten Städte den Zug verlassen und insgesamt sechs mal umsteigen mussten, ließ sie unerwähnt. Es hätte die Freunde zu sehr verängstigt. Sie hatten ohnehin keine Wahl. Warum also den Freunden Angst machen?
Edwige wippte aufgeregt auf ihren Pfoten auf und ab. „Morgen abend sind wir bei Zsazsa!“ rief sie voller Freude aus.
„Habt Ihr denn die genaue Adresse von Zsazsa?“ fragte Merlin. Der alte Kater war offenbar gut orientiert – er wusste, wie man sich in einer Stadt zurechtfand.
Edwiges Freude verwandelte sich im Handumdrehen in Verzweiflung. „Nein, ich habe natürlich keine Adresse“, weinte sie. „Wie sollen wir Zsazsa wiederfinden in dieser Stadt? Daran habe ich überhaupt nicht gedacht!“
Merlin beruhigte sie. „Sie ist doch Studentin, Eure Zsazsa. Studenten sind an genau drei Orten anzutreffen: an ihrer Fakultät in der Uni, im Studentenwohnheim und abends in der taverna – der Kneipe. Wir finden Eure Zsazsa, ganz sicher!“