Seit Luzis Aufnahme in die Tierklinik waren zwei Wochen vergangen. Nachdem es tagelang sehr schlecht um ihn gestanden hatte, hatte die Behandlung nach einer knappen Woche begonnen, anzuschlagen.
Zsazsa hatte gestern angekündigt, Luzi werde heute entlassen. Er werde aber auch in den kommenden Tagen, vielleicht sogar Wochen, noch viel Ruhe brauchen. Das kleine Zimmer am Ende des Flurs war daher ganz für Luzi eingerichtet worden. Die gußeiserne Heizung verbreitete dort unter fleißigem Gluckern wohlige Wärme und das große balkonartige Fenster ließ nicht nur viel Licht ins Zimmer, sondern erlaubte auch einen Blick in den Garten. Ein idealer Ort, um gesund zu werden, fand Zsazsa.
„Kannst Du denn die Katzenseuche nicht bekommen, Edwige?“ hatte Leo noch voller Sorge gefragt.
„Ich bin dagegen geimpft,“ hatte Edwige erklärt. „Damals hatte ich mich noch mit Zähnen und Klauen gegen die Impfung gewehrt – aber heute bin ich ehrlich gesagt froh, dass ich sie habe!“
Als Luzi in seinem Katzenkorb aus der Klinik gekommen war, hatte Leo ihn fast nicht erkannt. Der einst stattliche große Kater war bis zur Unkenntlichkeit abgemagert. Er hatte Leo und Edwige nur kurz zugeblinzelt, war aus dem Korb herausgekrochen und hatte sich unter seiner Decke an der Heizung im kleinen Zimmer versteckt. Zsazas hatte ihm gut zugeredet und ihn auch an ihrer Hand schnuppern lassen – dies war allerdings zunächst mit einem Fauchen quittiert worden.
Leo war sofort zu Luzi unter die Decke gekrabbelt. „Wir sind so froh, dass Du wieder da bist, Luzi!“ hatte sie ihm zugeflüstert. Luzi hatte nur leise schnurren können – und war sofort eingeschlafen.
Nun, einige Tage später, saßen die Freunde bei Luzi im kleinen Zimmer. Luzi konnte schon wieder in seinem Buch lesen – Leo hatte es mitsamt Luzis Militärbeutel gut aufgehoben.
Über die Erlebnisse in der Tierklinik wollte Luzi nicht sprechen. „Zum Tierarzt zu müssen, ist eigentlich schon das Schlimmste, was es gibt. Aber in die Tierklinik und dort stationär aufgenommen werden … Horror ist nichts dagegen. Ok, sie haben sich Mühe gegeben mit dem Essen – es gab nur lecker Tütchen, die ganz feinen! – und mir geht es auch besser. Trotzdem würde ich das Ganze jetzt am liebsten vergessen. Ich wünsche Euch, dass Ihr nie zum Arzt müsst.“
Edwige schüttelte den Kopf. „Ich gehe da auch nicht gern hin, das stimmt. Aber diesmal haben sie Dir da wirklich das Leben gerettet, Luzi.“
Luzi drehte sich grummelnd auf die andere Seite und schlug seinen Marcel Proust auf.
„Madame Martin, die alte Dame aus dem 3. Stock, ist vorhin vom SAMU – dem französischen Notarzt – bewusstlos ins Krankenhaus gebracht worden,“ berichtete Edwige. „Sie ist schon über 80, und ich mache mir Sorgen um sie. Sie war immer freundlich zu mir und hat mir Leckereien zugesteckt. Wenn sich jemand über die Katzen im Viertel beschwert hat, hat sie ihm die Leviten gelesen. Das fand ich toll. Der SAMU-Arzt sagte, es sei ernst und sie würde vielleicht nie wiederkommen …“ Edwige seufzte.
Leo fand das sehr traurig – obwohl sie Madame Martin gar nicht kannte. „Können wir denn nichts tun, Edwige? Ihr vielleicht etwas ins Krankenhaus bringen, was sie aufmuntert? Ein paar Blumen oder so?“
Edwige fand das eine gute Idee – wenn man nur wüsste, in welches Krankenhaus Madame Martin eingeliefert worden war… sie konnten ja schwerlich alle Krankenhäuser in Paris nach Madame Martin absuchen…
„Und wenn wir in ihrer Wohnung nachsehen, ob die Leute vom SAMU eine Nachricht für die Angehörigen hinterlassen haben? Wenn Madame Martin bewusstlos war, konnte sie ja niemanden benachrichtigen… wie hat sie den Notarzt gerufen? Das konnte sie doch gar nicht…?“ Leo kratzte sich ratlos am Kopf.
Das war allerdings seltsam. „Ich weiss nicht, wer den SAMU gerufen hat.“ bemerkte Edwige. „Jetzt wo Du es sagst, fällt es mir auch auf… Madame Martin lebt schon seit Jahren allein, sie hat keine Angehörigen. Ich vermute, den Nachbarn im 4. Stock muss etwas aufgefallen sein. Aber wie …? Wie auch immer: die Hauptsache ist, sie ist nun im Krankenhaus und wird versorgt. Lass uns mal nach oben gehen und gucken, vielleicht finden wir ja wirklich etwas in der Wohnung.“
Edwige ließ Leo auf ihren Rücken klettern und lief durch den Flur zur Haustür. Diese war zwar zu, aber nicht abgeschlossen. Die Katze sprang auf das Beistelltischchen neben der Tür, drückte die Klinke mit der Pfote herunter und schob die Tür einen Spalt weit auf. Durch diesen wand sie sich geschickt hindurch und schloß die Tür danach bis auf einen winzigen Schlitz. Von außen war nicht zu erkennen, dass die Tür noch offen war.
Edwige sah sich zufrieden nach Leo um. „Das ist meine spezielle Ausbruchtechnik. Ich bin noch nie aufgeflogen!“
Leichtfüßig sprang Edwige die Treppen hinauf in den dritten Stock. Dort fanden sie allerdings nur eine verschlossene Tür – so sehr sie auch dagegen drückten, die Tür blieb zu.
Leo seufzte. „Hier kommen wir wohl nicht hinein. Wie schade!“
„Warte ab“ sagte Edwige. „Wir müssen auf den Fenstervorsprung. Da, durch das Fenster im Treppenhaus.“ Schon war sie auf das Fensterbrett gesprungen, hatte das Fenster, das offenbar nicht richtig schloß, aufgedrückt und schickte sich an, hinaus auf das Fenstersims zu steigen. Leo schwindelte es. „Wir sind im dritten Stock, Edwige! Das ist gefährlich!“ zischelte sie der Katze zu.
„Keine Bange,“ antwortete Edwige. „Halt Dich gut fest!“ Mit einem Satz sprang sie vom Fenstersims des Treppenhauses auf das breite Geländer eines Balkons – des Balkons von Madame Martin. Leo war das Herz für einen Moment stehengeblieben. Sie flüsterte voller Angst „Edwige, wir hätten abstürzen können! Auf keinen Fall mache ich so etwas noch einmal mit!“
Edwige antwortete nicht.
Sie starrte wie gebannt durch die Balkontür in die Wohnung von Madame Martin und stieß ein leises Fauchen aus. In der Wohnung standen zwei dunkel gekleidete Männer, die einen Aktenordner nach dem anderen aus Madame Martins Sekretär herausnahmen und durchblätterten. Nicht alles, was sie darin gefunden hatten, schien ihnen gefallen zu haben: achtlos herausgerissene Dokumente lagen überall auf dem Boden herum.
Leo stockte der Atem. Edwige wich von der Balkontür zurück – lautlos versteckte sie sich hinter einem Blumenkübel, der auf dem Balkon stand.
„Wer sind diese Männer?“ zischelte Leo Edwige ins Ohr. „Sind das Leute vom SAMU? Oder Bekannte von Madame Martin?“
Stumm schüttelte Edwige den Kopf. „Ich habe den einen der beiden schon mal gesehen – den dunkelhaarigen, der etwas größer ist. Ich dachte, das ist ein Taxifahrer … er hat Madame Martin manchmal vom Arzt nach Hause gebracht. Er muss auch ein paarmal hier in der Wohnung gewesen sein – wie oft, das weiss ich nicht… Den anderen kenne ich nicht. Was haben die hier zu suchen? Mir gefällt das gar nicht!“
Leo gab zu bedenken, dass es vielleicht Madame Martin selbst gewesen sein könnte, die die beiden Herren geschickt habe? Sie könnte durchaus wichtige Papiere – eventuell für die Krankenversicherung – benötigen, aber könne ja zur Zeit nicht aus dem Krankenhaus …
Edwige schnaubte skeptisch. „Würdest Du, wenn man Dich bittet, ein paar Versicherungsdokumente zu holen, so eine Sauerei veranstalten?“ Leo sah durch die Glastür ins Wohnzimmer – mehrere Aktenordner stapelten sich auf dem Boden, Papiere lagen über den schönen Perserteppich ausgebreitet … ein Regal war ganz umgeworfen und ausgeleert worden: Bücher, Photos, zwei Vasen und allerlei Krimskrams, der sich im Laufe eines langen Lebens ansammelt, lagen verstreut herum.
Leo hielt sich vor Entsetzen die Hand vor den Mund. ‚Einbrecher!‘ schoss es ihr durch den Kopf.
„Edwige, wir müssen hier weg und die Polizei rufen!“ flüsterte sie.
„Wir können nicht weg“ knurrte Edwige. „Vom Balkon können wir nicht zurück auf den Sims springen. Der ist viel zu schmal, und das ist sogar mir zu riskant. Nein, wir müssen durch die Wohnung durch, anders geht es nicht.“
Nun sah Leo neben der Balkontür ein kleines Katzentürchen, das durch eine Klappe Einlass in die Wohnung gewährte. „Und wenn wir drinnen sind? Also, gesetzt den Fall, dass in dieser Wohnung gerade mal keine Einbrecher zugegen wären … wie kommen wir dort wieder raus?“ Eine leichte Gereiztheit vermochte Leo nicht zu verbergen.
Edwige blieb indessen außerordentlich gelassen. „Bitte sei ganz leise, Schildkröte. Wir gehen jetzt da hinein.“
Leo wollte entgegen Edwiges Weisung lautstark protestieren, aber Edwige lief einfach auf die Katzenklappe zu, glitt durch diese ohne ein Geräusch hindurch und stand in der Wohnung. Die beiden Männer waren einen Augenblick vorher ins Nebenzimmer gegangen, näherten sich aber – das hörte man an den Stimmen – nun wieder dem Wohnzimmer. Mit einem nicht vernehmbaren Sprung tauchte Edwige unter das neben dem Sekretär stehende Sofa.
Im selben Moment betraten die Männer das Wohnzimmer.
„Es muss hier sein! Ich habe es vorgestern noch gesehen. Sie kann es nicht weggeschafft haben. Wozu auch?“ sprach der eine Mann – der, den Edwige bereits zuvor gesehen hatte – zu dem anderen.
„Dann erklär mir, warum Du es nicht findest! Die ganze Sache missfällt Julio schon jetzt gewaltig!“
„Reg Dich nicht auf! Wir finden das Testament! Es muss hier in dieser Wohnung sein!“
Edwige sah Leo, die sich aus Edwiges Fell auf den Boden heruntergehangelt hatte, mit weit aufgerissenen Augen an. „Die suchen das Testament von Madame Martin!“ zischelte sie. „Das bedeutet, sie wollen an das Erbe! Oh nein – vielleicht ist die arme Madame Martin sogar schon tot!“ Sie biss sich auf ihre Pfote, um nicht laut zu schluchzen.
Leo krabbelte ein paar Schritte näher an den Rand des Sofas heran, um einen Blick auf die beiden Männer zu werfen. Dabei bemerkte sie unter ihren Füßen ein leises Knistern. Sofort blieb sie stehen. Sie stand auf einem Blatt Papier.
Trotz des nur schwachen Lichts, das unter das Sofa drang, konnte sie die Lettern, die oben auf dem Papier standen, klar entziffern: TESTAMENT stand dort, handschriftlich und in Großbuchstaben.
Das Dokument, welches die beiden Übeltäter suchten, lag hier bei ihnen unter dem Sofa.