Leo und Luzi waren auf abenteuerlichen Wegen zum Treffpunkt in der Rue de Gergovie gelangt. Nachdem sie sich lange in den Armen gelegen hatten – überglücklich, dass sie sich wiedergefunden hatten – waren sie müde in das provisorische Versteck unter der Buchsbaumhecke gestolpert und dort aneinandergekuschelt eingeschlafen.
1.
Zitternd vor Kälte wachte Leo auf. Es war kurz vor Sonnenaufgang. Luzi lag etwas von ihr entfernt auf der Seite und atmete schwer durch den offenen Mund. Bei Katzen ist das ein sehr schlechtes Zeichen. Luzi war krank.
Leo durchfuhr ein solcher Schreck, dass sie die Kälte gar nicht mehr spürte.
„Luzi, was ist mit Dir?“ fragte sie voller Angst.
Luzi keuchte. „Ich muss mir in der Metro einen Katzenschnupfenvirus eingefangen haben. In meiner alten Bleibe hätte ich es wohl auskurieren können, mit viel heissem Tee und Bettruhe … aber hier liegen wir fast ungeschützt auf dem bloßen Erdboden, der Wind zieht durch die Hecke … ich werde hier kaum wieder gesund werden, Leo. Ein Katzenschnupfen ist eine schwere Erkrankung. Wir brauchen Hilfe.“
Luzi war so schwach, dass sein Kopf zu Boden glitt. So lag er der Länge nach ausgestreckt auf der Erde. Mit letzter Kraft sprach er: „Geh auf die andere Straßenseite zur Hausnummer 75 und versuche, Edwige zu finden. Edwige ist meine Tante. Wenn sie nicht mehr hier ist, steht es schlecht um uns…“ Luzi verstummte.
In höchster Aufregung und zitternd vor Angst lief Leo los. Zum Glück war der Square nicht rundherum von der Mauer umschlossen – ein großes gußeisernes Tor bildete den Eingang. Leo schlüpfte ohne Schwierigkeiten durch die Stäbe und war auf der Straße. Direkt gegenüber sah sie den Eingang zur Hausnummer 75.
Schnell überquerte sie die Straße und stand vor der Tür – einer wunderschönen alten Doppeltür aus hellem, gewachstem Holz. Die Tür war geschlossen, aber ein mehrere Zentimeter breiter Spalt unter der Tür ermöglichte es Leo problemlos, ins Haus zu kommen. Normalerweise hätte sie sich bei einem derart unbefugten Betreten eines fremden Hauses – fast schon einem Einbruch – sehr unwohl gefühlt. Nun dachte sie indessen nur an den kranken Luzi und daran, dass es hier vielleicht jemanden gab, der helfen konnte.
Ein breiter Gang führte zu einem Innenhof. Dieser Hof – er war wie ein Garten mit Blumenbeeten sehr ansprechend angelegt – war von nicht ganz mannshohen Mauern umgeben, hinter denen offenbar verwilderte oder jedenfalls nicht sonderlich gepflegte Gärten voller Bäume und Büsche lagen.
Auf einer der Mauern saß eine mißmutig dreinschauenende, ziemlich beleibte Tigerkatze. Sie hatte den Eindringling – Leo – sofort mit ihrem scharfen Blick erspäht und überlegte nun, ob es sich wohl lohnte, das Plätzchen in der eben aufgehenden Morgensonne zu verlassen, um sich das seltsame Wesen zu greifen.
Die Tigerkatze runzelte die Stirn. Das Wesen – offensichtlich eine Schildkröte – hatte sie doch tatsächlich gerade angesprochen!
„Edwige?“ fragte Leo, etwas verunsichert. „Sind Sie das?“
„Und was, wenn ich das bin?“ knurrte die Tigerkatze. „Was willst Du?“ Lauernd starrte sie das kuriose Tier an, das ihren Namen kannte.
„Ich bin eine Freundin von Luzi, Ihrem Neffen. Er liegt dort draußen im Square – es geht ihm sehr schlecht! Luzi sagt, Sie können uns helfen!“ Hoffnungsvoll blickte Leo die dicke Tigerkatze an, die nun eilig von der Mauer heruntersprang.
„Luzi? Mein Neffe Luzi, sagst Du? Ich habe Luzi seit Jahren nicht gesehen – er war damals in den Norden von Paris gezogen, um dort sein Glück zu suchen … aber das scheint er wohl nicht gefunden zu haben. Bring mich zu ihm!“ befahl die Katze – recht autoritär, fand Leo.
„Wir müssen durch die Tür durch – aber sie ist zu … ich passe unter der Tür hindurch, aber ich glaube, Sie nicht …“ sagte Leo, voller Furcht, die Katze könnte das möglicherweise als Anspielung auf ihre vollschlanke Figur auffassen.
„Papperlappapp. Wir müssen nicht durch die Tür. Krall Dich in meinem Pelz fest, wir klettern durch die Gärten. Und hör auf, mich zu siezen. Das macht mich alt.“
Gehorsam krabbelte Leo auf den Rücken der Tigerkatze und hielt sich fest. Sie merkte, dass Edwige wirklich wohlgenährt war – man spürte ihre Knochen überhaupt nicht, so wie es bei Luzi der Fall war.
Edwige sprang mit einem Satz auf die Mauer, dann auf einen Baum, über dessen Geäst sie bis in einen anderen Hinterhof kletterte. Dort sprang sie auf den Boden und lief durch einen Torbogen auf die Straße hinaus. Nun ging es noch um ein paar Straßenecken – und sie waren am Square angekommen.
„Luzi!“ rief Leo. Edwige stieß ein Gurren aus – fast klang es wie eine Taube … ein leises Keuchen erklang aus der Hecke. Sofort tauchte Edwige mitsamt Leo in die Hecke ein – und fand dort den völlig entkräfteten Luzi.
Edwige sah plötzlich sehr besorgt aus. Sie hatte auch nicht mehr den mißmutigen, autoritären Blick, der Leo vorhin Angst gemacht hatte. Mit der Pfote strich sie Luzi über den Kopf. „Mach Dir keine Sorgen, Luzi. Wir kümmern uns jetzt um Dich. Am besten versuchst Du, etwas zu schlafen, während wir überlegen, wie wir Dich ins Haus bringen.“
Luzi schloß die Augen. Es war nicht ganz klar, ob er nun einschlief – oder ob er das Bewusstsein verlor. In jedem Fall konnte er nicht hier in der Hecke bleiben – es war viel zu kalt für einen kranken Kater.
Edwige ergriff Luzis rechte Pfote und schlang sie sich um die Schulter. Dann richtete sie sich auf – Luzi lang nun halb auf ihrem Rücken, so dass Edwige ihn fast mühelos tragen konnte. Leo war beeindruckt, wie besonnen und unaufgeregt Edwige vorging. Schon war sie mit Luzi aus der Hecke heraus und schickte sich an, die Straße zu überqueren – um zum Hauseingang zu kommen.
„Schildkröte!“ rief sie Leo zu. Diese wurde puterrot – denn sie hatte es bisher versäumt, sich vorzustellen. „Ich heisse Leo…“ sagte sie etwas eingeschüchtert. „Alles klar – Leo: bitte krabbel schnell unter der Tür durch. Links neben der Tür ist in Fußhöhe ein Schalter: auf den drückst Du drauf. Dann geht die Tür auf. Ich nutze diese Tür sonst nicht, aber jetzt geht es nicht anders.“
Leo kroch, so schnell sie konnte, durch den kleinen Spalt unter der Tür. Richtig: gleich links war ein kleiner Knopf – auf diesen drückte sie, so fest sie konnte. „Klick“ machte es, und die Tür öffnete sich wenige Zentimeter. Edwige stemmte sich von außen dagegen: nun klappte die Tür ganz auf und schon stand Edwige mit Luzi im Eingang.
Sie erklomm die Treppe, die rechts in den ersten Stock führte. Leo blieb wie bestellt und nicht abgeholt im Erdgeschoss – Treppenstufen waren für sie ein unüberwindbares Hindernis.
„Schildkröte – pardon: Leo! Ich schicke Dir gleich den Aufzug runter. Warte einen Moment!“ rief Edwige ihr zu. Dann klappte eine Tür und es wurde still im Treppenhaus. Leo setzte sich in eine Nische in der Nähe des altmodischen Lifts und wartete… Wie sollte sie gleich nur die Lifttür aufmachen? Leo seufzte.
Ein Klappen ertönte, dann ein Knirschen und schließlich ein metallisches Schnurren. Der Lift hatte sich in Bewegung gesetzt! Leos Herz klopfte vor Aufregung – da war die Kabine schon im Erdgeschoss angelangt und öffnete sich automatisch. Etwas beklommen betrat Leo den Aufzug. Lautlos schloss sich die Tür und der Lift schwebte nach oben. Im ersten Stock hielt er und öffnete sich.
Leo stieg aus.
2.
Im ersten Stock gab es nur eine Wohnung – deren Tür stand offen. Zögernd betrat Leo die Wohnung. „Edwige …?“ sagte sie, ziemlich eingeschüchtert. Der Boden der Wohnung bestand aus einem wunderschönen, hellen und offenbar gerade frisch gebohnerten Parkett – ungeschickt glitt Leo darauf aus. Voller Schreck zog sie sich in ihren Panzer zurück – wo war sie hier nur gelandet! Sie fühlte sich überhaupt nicht wohl.
Sie spürte ein Klopfen auf ihrem Panzer. „Leo, alles in Ordnung mit Dir?“ fragte Edwige. „Es tut mir leid; heute bin ich nicht sonderlich gastfreundlich – Luzi geht es sehr schlecht. Ich könnte jetzt Deine Hilfe gebrauchen.“
Leo entschied sich, aus dem Panzer herauszukommen und sich mit der ungewohnten Situation abzufinden. Schließlich musste sie Luzi unbedingt helfen!
Edwige sah sie aus großen, besorgten Augen an. „Das ist alles ganz neu für Dich, nicht? Keine Angst – das Leben in einer Wohnung hat viele Vorteile! Komm, ich zeige Dir Euer Zimmer.“
Langsam begann Leo, ihre Scheu vor der Tigerkatze abzulegen. Sie war aber auch zu eindrucksvoll – deutlich größer und (das musste man sagen) viel beleibter als Luzi. Das bedeutete aber sicher auch, dass man bei Edwige keinen Hunger leiden musste – eine gute Nachricht!
Leo folgte Edwige durch den Wohnungsflur, von dem aus man in mehrere große Zimmer sehen konnte. „Ist das Deine Wohnung, Edwige …?“ fragte Leo ungläubig. „Lebst Du hier ganz allein…?“
„Ja natürlich ist das meine Wohnung. Wieso denn nicht?“ antwortete Edwige. „Manchmal vermiete ich das hintere Zimmer an Katzenstudenten – aber im Moment ist es frei. Ihr könnt dort also wohnen, bis es Luzi wieder besser geht.“
Leo war beeindruckt. Lebten hier denn gar keine Menschen? Wie kam Edwige zu dieser Wohnung …? Sie beschloss, diese Fragen zunächst zurückzustellen – es wäre ihr unhöflich vorgekommen, Edwige jetzt so auszufragen.
Am Ende des Flurs lag ein helles, geräumiges Zimmer. Ein flauschiger, orangefarbener Teppich lag einladend in der Mitte des Zimmers. Gleich an der gußeisernen Heizung stand ein Weidenkorb mit einer dicken Bettdecke und einem kuschligen Kissen. Luzis Nase und Ohren sahen unter der Bettdecke hervor, ansonsten war er ganz in die Decke eingehüllt.
„Luzi hat hohes Fieber, er braucht dringend Medizin. Zum Glück habe ich alles da – ich bin gelernte Tierarzthelferin, also Klinikkatze. Da bekommt man alles mit, was man wissen muss. Nun müssen wir es gemeinsam schaffen, Luzi diesen Sirup einzugeben. Traust Du es Dir zu, mir dabei zu helfen, Leo?“ fragte Edwige. „Katzen sind leider keine einfachen Patienten. Und besonders gut schmeckt der Sirup auch nicht….“
Leo nickte. „Natürlich helfe ich Dir, Edwige. Was muss ich denn tun?“
„Du musst Luzi etwas ablenken, während ich ihm den Sirup einflöße. Setz Dich dort aufs Kopfkissen und sprich mit ihm. Er wird dann zu Dir sehen, und nicht bemerken, wie ich mit dem Löffel ankomme…“
Leo krabbelte auf das Kissen. Es war so wunderbar weich und glatt! „Luzi!“ sagte sie leise. „Luzi, ich bin hier. Wie geht es Dir…?
Luzi blinzelte und öffnete den Mund, um etwas zu sagen – da war Edwige mit dem Löffel bereits zur Stelle und verabreichte ihm eine gehörige Portion Sirup.
Der Kater erstarrte vor Schreck, versuchte zu husten – und schluckte reflexartig. Der Sirup war unten. Zufrieden meinte Edwige: „Gut gemacht, Schildkröte Leo!“ Leo sah verlegen zu Boden. Luzi knurrte mit letzter Kraft „Ihr seid so gemein…“, fiel zurück auf das Kissen und schlief wieder ein.
„Komm, Leo. Wir lassen ihn sich jetzt ausruhen. Der Sirup wirkt bis morgen früh, dann sollte es Luzi schon besser gehen. Ich koche uns jetzt einen Tee und dabei kannst Du mir erzählen, wie es Euch hierher verschlagen hat.“
Fortsetzung folgt!
Wie immer sehr schön! Freue mich auf die Fortsetzung!
Danke Dir 🙂